In Uganda hinterlässt die längste Schulschliessung der Welt tiefe Spuren
«Ich bete zu Gott, dass er euch die finanziellen Mittel gibt, eure Kinder heute Morgen zur Schule zu schicken.» Der Singsang des Pastors dröhnt aus Dutzenden von Lautsprechern in Luweero. Die Hauptstrasse des kleinen Städtchens 70 Kilometer nördlich von Kampala ist an diesem Montagmorgen Anfang Januar stark befahren. Unzählige Motorräder sind mit den bunten Reisekoffern und Matratzen der Internatskinder beladen. Überall sind Kinder und Jugendliche in Schuluniformen zu sehen, vor den Schulen bilden sich lange Schlangen.
Nach fast zwei Jahren ist sie endlich vorbei: die längste Corona-bedingte Schulschliessung der Welt. Gemäss der Regierung war die Massnahme im März 2020 angeordnet worden, um das Risiko von Übertragungen von den Schulkindern auf ihre Eltern zu verringern. Für die Opposition war die lange Schliessung auch politisch motiviert: Die Regierung habe dadurch versucht, das Land im Vorfeld der Wahlen im Januar 2021 und während der angespannten Monate danach besser abzuriegeln.
Klar ist: Die Schulschliessung wird einen dauerhaften Tribut fordern. Sie macht manche Errungenschaften, die das ostafrikanische Land im Bildungsbereich in den vergangenen Jahrzehnten erreicht hat, zunichte.
«Ich kehre nie wieder zurück»
Im März 2020 hat die Lehrerin Justine Nabukeera zum letzten Mal von der Privatschule gehört, an der sie zuvor während sieben Jahren Englisch unterrichtet hatte. Am Tag, an dem alle Schulen in Uganda aufgrund der Pandemie geschlossen wurden, sendete ihr der Schulleiter eine Nachricht: «Kein Lohn bis zur Öffnung der Schule.»
Es ist ein Satz, der für Nabukeera und ihre zwei Kinder das Wegfallen ihres Haupteinkommens bedeutete. «Ich war in Panik», so erinnert sich die 32-Jährige. Sie wusste, ihre Ersparnisse würden für knapp vier Wochen ausreichen. «Ich hatte keine andere Wahl, als augenblicklich eine andere Arbeit zu finden.»
Erst bestellte sie gemeinsam mit ihren beiden Mädchen die Kaffeebohnenfelder ihrer Nachbarn. Dann verhalf ihr der Vater eines ehemaligen Schülers zu einem Darlehen. Mit dem Geld eröffnete sie einen kleinen Laden, in dem sie heute unter anderem Bier, Milch, gebrannte Erdnüsse und Früchte verkauft. «Ich musste erst lernen, welche Preise ich verlangen kann», sagt Nabukeera. Ein Kunde vor dem Laden fügt lachend hinzu, das habe sie leider sehr schnell gelernt.
Der Berufswechsel gelingt. Obwohl sie das Unterrichten vermisst, ist Nabukeera sicher: «Ich kehre nie wieder in den Lehrerberuf zurück.» Als Lehrerin habe sie ihren Lohn selten pünktlich und vollständig erhalten. Nun verdiene sie monatlich gar rund 70 Dollar mehr als zuvor.
Gut 40 Prozent der Primarschulen und 60 Prozent der Sekundarschulen Ugandas sind private Einrichtungen, die von Einzelpersonen, religiösen Gemeinschaften oder Wohltätigkeitsorganisationen betrieben werden. Ihre Haupteinnahmequellen sind die Schulgebühren. Mit ihnen werden die laufenden Kosten gedeckt – einschliesslich der Löhne. Ein Lehrergehalt beläuft sich monatlich auf 100 bis 250 Dollar.
Als die Gebühren infolge der Schulschliessungen wegfielen, sahen sich die Leiter vieler privater Schulen gezwungen, die Lehrerlöhne zu kürzen oder ganz zu streichen. In den staatlichen Schulen kam die Regierung derweil weiterhin für die Gehälter des Lehrpersonals auf.
Wie Nabukeera haben deshalb viele ugandische Lehrer neue Einnahmequellen erschliessen müssen, etwa als Bauern, Ziegelbrenner oder Taxifahrer. Dies bedroht nun die Zukunft der Privatschulen: Einigen fehlen die Lehrer, andere wurden während des Lockdowns ganz geschlossen oder umfunktioniert. Gemäss der nationalen Planungsbehörde wurden landesweit 3507 Grundschulen und 832 weiterführende Schulen nicht wiedereröffnet. Im Bezirk Luweero sind es deren 40.
Die Gift Nursery and Primary School, in der vor der Pandemie 300 Schüler von 11 Lehrern unterrichtet wurden, ist eine davon. Ihr ehemaliger Besitzer, Ronald Luyinda, beschloss nach neun Monaten Lockdown, die leeren Schulräume in ein Gästehaus umbauen zu lassen. «Das Schulgeschäft war einfach nicht mehr rentabel», sagt Luyinda auf dem einstigen Schulgelände, das nun eine Baustelle ist.
Einzig eine Wandtafel und ein paar verstaubte Schulbücher erinnern noch an den früheren Zweck des Gebäudes. Die Regierung habe immer wieder finanzielle Unterstützung versprochen, doch bei ihm sei nichts angekommen, sagt Luyinda. «Ich wollte mich nicht mehr weiter verschulden.» Ihm werde jedes Gästezimmer mindestens 15 Dollar pro Nacht einbringen – viel mehr als die rund 290 Dollar, die er früher pro Monat als Schulbesitzer eingenommen habe. Klar habe es ihm für seine ehemaligen Schüler und die Eltern leidgetan, so Luyinda. «Doch am Ende des Tages bin ich ein Businessman.»
Begrabene Träume
Je weiter man sich vom Zentrum Luweeros entfernt, desto mehr machen die Häuser den schattigen Kaffeesträuchern und Bananenbäumen Platz. Die 19-jährige Cissy Nakandi sitzt auf einer Betontreppe und beobachtet ihre Mutter, die gerade Chilischoten zum Trocknen auslegt. Nakandi gehört nicht zu den Kindern und Jugendlichen, die an diesem Morgen durch die wieder geöffneten Schultore strömen.
Ihren Traum, einmal an der Universität Marketing zu studieren, habe sie begraben, erzählt sie. Als ihr College geschlossen habe, habe sie auf den Feldern ihrer Mutter und der Nachbarn mithelfen müssen. Langweilige Arbeit sei es gewesen. Ihre Beziehung zu einem ehemaligen Mitschüler habe den eintönigen Alltag etwas spannender gemacht, sagt Nakandi leise. Doch es war ein Rencontre mit Folgen: Als sie immer wieder erbrechen musste, schickte sie ihre Mutter zum Arzt. Der Schwangerschaftstest fiel positiv aus.
«Meine Eltern waren unglaublich wütend auf mich», sagt die zierliche junge Frau, ohne den Blick zu heben. Während der Schwangerschaft habe sie immer wieder weinen müssen: weil sie sich alleingelassen fühlte, weil der Vater des Kindes nicht mit ihr zusammenbleiben wollte, weil sie nun zu Hause feststeckte.
Mit ihrem dreimonatigen Säugling Andrew wagt sich Nakandi derzeit praktisch nicht auf die Strasse: Die Nachbarn würden ihr abschätzige Blicke zuwerfen, sagt sie. «Ich fühle mich beschämt.» Doch da sei auch die Wut auf den Vater des kleinen Andrew, der in diesen Tagen mit dem College weitermachen könne. «Für ihn geht das Leben weiter, als ob nichts gewesen wäre.»
Die Schwestern Helleni Nassozi (oben) und Cissy Nakandi (links) sind während des langen Lockdowns der Schulen in Uganda schwanger geworden. Für ihre Mutter Harriet Nateebwa (unten rechts) ist das ein schwerer Schlag. Statt für die Schulgebühren wird das Geld der Familien nun für die Enkel gebraucht.
Harriet Nateebwa, die Mutter von Nakandi, nimmt ihrer Tochter den kleinen Andrew kurz ab. Zu Beginn der Schulschliessung habe sie alles versucht, damit ihre zehn schulpflichtigen Kinder jeden Abend ihren Schulstoff repetierten und sich gegenseitig abfragten. Doch bereits nach einigen Tagen habe sie sie dazu nicht mehr motivieren können, sagt die 45-Jährige. Während wohlhabende Ugander sich Privatlehrer leisten könnten, sei ihre Hauptsorge gewesen, überhaupt ihre Familie zu ernähren: «Wir durften während der ersten Monate des Lockdowns unseren Kaffee nicht mehr auf dem Markt verkaufen.»
«Meine Kinder waren in der Schule sicher – auch vor Schwangerschaften», sagt Nateebwa. Nun aber werde sie bald zum zweiten Mal Grossmutter. Auch die zweitälteste Tochter, die 17-jährige Helleni, ist schwanger. «Wir wären nicht in dieser Situation, wenn die Schulen offen geblieben wären», davon ist Nateebwa überzeugt. Insgesamt vier ihrer zehn Kinder werden nicht mehr an die Schule zurückkehren. Das Geld für ihre Schulgebühren werde nun für ihre Enkel gebraucht. In Uganda ist nur die Grundschulbildung kostenlos und verpflichtend; die weiterführende Schulbildung ist freiwillig und gebührenpflichtig.
Die ugandischen Behörden gehen davon aus, dass ein Drittel der Kinder, die vor der Pandemie die Schule besucht haben, nicht mehr ins Klassenzimmer zurückkehren werden. Das ist ein schwerer Rückschlag für das Land, das eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt aufweist und ohnehin mit hoher Jugendarbeitslosigkeit und Armut zu kämpfen hat.
«Der Schaden ist gewaltig», sagt Mary Goretti Nakabugo, die Geschäftsführerin von Uwezo Uganda, einer in Uganda ansässigen Organisation, die Bildungsforschung betreibt. «Wenn nun keine intensiven Anstrengungen unternommen werden, um den Rückstand der Schüler aufzuholen, haben wir vielleicht eine Generation verloren», sagt sie gegenüber ugandischen Medien.
Arbeiten statt büffeln
Tatsächlich sind an diesem Montagnachmittag in vielen Klassenzimmern in Luweero nur die ersten Bankreihen besetzt. So auch an der Muslim Secondary School. Der Schulleiter, Osuman Lubega, ist jedoch zuversichtlich, dass bis Ende der Woche noch einige Schüler dazukommen. «Ich habe den ganzen Morgen Anrufe von Eltern erhalten, die glauben, bald die Schulgebühren beisammenzuhaben», sagt er.
Diejenigen, die zurückgekehrt seien, erkenne er kaum wieder, erklärt derweil Ronald Ndawula, der Schulleiter der Everest Secondary School. «Viele sind dem Geld verfallen», sagt er. Sie verstünden nicht, weshalb sie noch in die Schule sollten, wenn sie als Motorradfahrer oder Bauern bereits ihren eigenen Lohn verdienen könnten.
Dann erzählt er von einem Schüler, der an diesem Morgen so lange auf dem Pausenplatz geschrien habe, bis ihn der Vater wieder mit nach Hause genommen habe. «Der Schüler wollte wieder zurück zu seinem Job auf der Baustelle», sagt Ndawula. Er habe nun alle Eltern aufgefordert, ihre Kinder für das Internat der Sekundarschule anzumelden, sofern das finanziell möglich sei. «Wir müssen sie nun intensiv betreuen, damit sie wieder in eine Art Schul-Denkweise hineinfinden», so der Schulleiter.
Auch die ugandische Regierung drängt nun darauf, so viele Schülerinnen und Schüler wie möglich zurück in die Schulen zu bringen. Man habe gar Dorfälteste und Kirchenführer eingeschaltet, um Familien zu ermutigen, ihre Kinder wieder anzumelden, sagt die Erziehungsministerin. Auch wurden die zuerst geplanten Corona-Tests für einen Wiedereintritt in den Unterricht kurz vor der Schulöffnung gestrichen. Einige der Öffnungsschritte könnten indes wieder rückgängig gemacht werden, falls das Gesundheitssystem erneut überlastet sein sollte, sagte Präsident Yoweri Museveni in seiner Neujahrsansprache.
Der 18-jährige Henry Tumusiime hofft derweil, dass es nie mehr so weit kommt. Während des Lockdowns hat er seinem Vater auf der Farm geholfen und für ihn Kaninchen und Hühner auf dem Markt verkauft. Bis zu 3 Dollar habe er so pro Tag verdienen können. «Aber kein Geld der Welt kann die Schule ersetzen», sagt Tumusiime. Es sei grossartig, wieder zurück zu sein. «Ich habe sogar das Schnarchen im Massenschlag des Internats vermisst.»