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Sarah Fluck ist freiberufliche Multimedia-Journalistin in Kampala. Entdecke ihre Arbeiten in Text, Fotografie, Audio und Video. Bleib über Instagram und Twitter in Kontakt oder schreibe eine E-Mail.

Reportage, Text, Fotografie

Der geplatzte Olympia-Traum

Kampala, Uganda — Julius Ssekitoleko wollte seine Familie mit Gewichtheben aus der Armut stemmen – in Tokio sollte der Durchbruch gelingen.

Sein Name in den Schlagzeilen, von Tokio bis New York – davon hat Julius Ssekitoleko eigentlich immer geträumt. Der ugandische Gewichtheber hat bei den Olympischen Spielen auf eine Auszeichnung gehofft. Und damit auf Anerkennung, aber auch auf ein Ende seiner Geldsorgen.

Mitte Juli, kurz vor Beginn der Spiele, berichten tatsächlich Medien aus aller Welt über den 21-jährigen Olympia-Aspiranten. Grund dafür ist indes nicht der erhoffte sportliche Exploit. «Julius Ssekitoleko hinterlässt Abschiedszettel und will in Japan neues Leben aufbauen», lautet die Schlagzeile einer amerikanischen TV-Sendung. «Bei Olympia verschwunden: Ugandischer Gewichtheber wird vermisst», heisst es in der grössten japanischen Tageszeitung.

Vom geplatzten Olympia-Traum zu einer verzweifelten Irrfahrt durch Japan – immer mit dem Ziel, der Armut doch noch zu entfliehen: Das ist die Geschichte, für die Ssekitoleko heute steht. Wie konnte es so weit kommen?

Hoffen auf den Check des Präsidenten

So gross die Schlagzeilen um ihn vor einigen Wochen noch waren, so klein wirkt Ssekitoleko heute beim Besuch in Kisugu, einem Stadtviertel der ugandischen Hauptstadt Kampala.

«Es tut mir alles so leid», sagt der Mann, der mit T-Shirt und Trainingshose im Wohnzimmer seiner Mutter sitzt. Auf dem Kaffeetischchen vor ihm hat er Dutzende Medaillen ausgebreitet, die er bei früheren Wettkämpfen gewonnen hat. Klar, er habe sich viel erhofft von seinem Einsatz in Tokio. Er wusste, wie etwa sein Landsmann Stephen Kiprotich behandelt wurde, nachdem er in London Marathon-Olympiasieger geworden war: Ein Check über 80 000 Dollar vom Präsidenten, ein neues Haus für seine Eltern, neue Sponsoren und attraktive berufliche Angebote.

Allein der Antritt bei den Spielen hätte sich finanziell gelohnt für Ssekitoleko: Die ugandische Regierung habe versprochen, allen Olympia-Athleten bei ihrer Rückkehr 2000 Dollar zu zahlen, sagt der Gewichtheber. Es wäre genug Geld gewesen, um die Mietrückstände seiner schwangeren Freundin und seiner Mutter zu begleichen und die drohende Zwangsräumung abzuwenden. Vielleicht hätte das Geld gar gereicht, um nebenher nicht mehr als Motorradtaxifahrer arbeiten zu müssen, wie es Ssekitoleko bis vor seiner Abreise nach Tokio tat.

Julius Ssekitoleko sitzt vor seinen Pokalen im Wohnzimmer seiner Mutter, seinem derzeitigen zu Hause.

Flucht ohne Plan

Ssekitoleko erinnert sich sehr genau an den Moment, als sich diese Hoffnungen auf Erfolg und finanzielle Sicherheit in Luft auflösten. Mitte Juli klopft es an der Tür seines Hotelzimmers in Izumisano, einer Stadt in Westjapan, wo sich der Gewichtheber auf die Spiele vorbereitet.

Zu jenem Zeitpunkt ist Ssekitoleko überzeugt, dass er kurz vor seinem Karrierehöhepunkt steht. Nachdem er bei den afrikanischen Gewichtheber-Meisterschaften im Mai Bronze gewonnen hatte, tauchte sein Name auf einer provisorischen Olympia-Liste des Internationalen Gewichtheberverbands (IWF) auf. Also reiste Ssekitoleko nach Japan – laut eigenen Aussagen nicht wissend, dass die IWF-Rangliste nicht nur qualifizierte Athleten enthielt, sondern auch solche, die über ein hohes Potenzial verfügten, sich noch zu qualifizieren.

Der Vertreter des ugandischen Sportverbands vor seiner Hoteltür ist kurz angebunden. Seine Botschaft: Ssekitoleko habe es nicht auf die endgültige Rangliste geschafft, er könne nicht antreten beim Wettkampf.

«Ich fühlte mich, als müsste ich mich übergeben», erinnert sich Ssekitoleko. Wie soll er ohne die Antrittsgage für seine Familie aufkommen können, fragt er sich. Was würde seine Mutter denken – und erst der Trainer? «Ich hatte nichts mehr. Als Verlierer konnte ich nicht mehr zu meiner Familie zurückkehren», sagt Ssekitoleko.

Dann fällt der 21-Jährige den Entschluss, der ihn für einige Tage weltberühmt machen wird. Im Rückblick erklärt er die spontane Entscheidung so: «Ich dachte plötzlich: Vielleicht kann ich doch noch meine Ehre retten, indem ich in Japan einen Job finde und meiner Familie das dringend benötigte Geld zukommen lasse.»

Kurz vor fünf Uhr in der Früh verlässt Ssekitoleko sein Hotel über einen Hinterausgang. Er nimmt lediglich ein paar Kleider und rund 100 Dollar mit. Von seinem Balkon aus hat er Bahnschienen gesehen – dahin läuft er. Sein erster Gedanke: Er muss möglichst weit weg von hier sein, wenn sein Verschwinden bemerkt wird.

Ein Zug bringt ihn nach Nagoya, einer Stadt rund 200 Kilometer nordöstlich von Tokio. Hier beginnt er, bereits am Bahnhof Passanten anzusprechen. Hat jemand einen Job, ein Bett für die Nacht, etwas Geld? «Niemand verstand mein Englisch», erinnert sich der Gewichtheber. Also rollt sich Ssekitoleko nach der Dämmerung unter einem Busch am Strassenrand zusammen und versucht im Neonlicht einer Strassenlampe Schlaf zu finden.

Das erste grosse internationale Turnier: 2018 schafft es Ssekitoleko an den Commonwealth-Spielen in Australien ins Final der «Unter 56 Kilo»-Kategorie. Dean Mouhtaropoulos / Getty

Von der Putzkraft zum Gewichtheber

Ssekitoleko kam in einem kleinen Dorf auf die Welt, mehrere hundert Kilometer von Kampala entfernt. Nach der Scheidung seiner Eltern zieht er mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern in die Hauptstadt, wo er die Schule besucht, bis zur siebten Klasse. Danach fehlt der Familie – wie zahllosen anderen in Uganda – das Geld für den Unterricht.

Was folgt, sind harte Jugendjahre, wie sie viele junge Uganderinnen und Ugander erleben. «Hustling» nennt man das Phänomen hier: das Hangeln von einem schlechtbezahlten Gelegenheitsjob zum nächsten. Einmal habe er ein paar Tage als Türsteher in einem Musikklub gearbeitet, ein andermal versucht, ein paar alte Handys auf dem Land zu verkaufen, sagt Ssekitoleko.

Immerhin: Es ist einer dieser Gelegenheitsjobs, der ihn zum Gewichtheben brachte. In einem Fitnessstudio heuerte Ssekitoleko als Putzkraft an. Ausserhalb der Öffnungszeiten durfte er selbst ein paar Gewichte stemmen. Der Studiobesitzer erkannte bald sein Talent und liess ihn gratis trainieren – sofern er künftige Preisgelder mit ihm teilen würde.

Tatsächlich erzielte Ssekitoleko bald erste Erfolge: Siege bei regionalen Junioren-Meisterschaften, nationalen Wettbewerben und schliesslich eine Teilnahme an den Commonwealth Games in Australien. Einträglich aber war das kaum je. Ssekitolekos Mutter erzählt, wie sie sich in jener Zeit immer wieder Geld geliehen habe, um Lebensmittel und Medikamente zu kaufen, um das Training ihres Sohnes zu unterstützen und seine Verletzungen zu behandeln. «Doch wir hofften, dass es sich irgendwann für unsere Familie auszahlen würde.»

Auch im Vorfeld der Tokio-Reise musste sich Ssekitoleko mit finanziellen Problemen herumschlagen. Im Juni verfügte die ugandische Regierung einen 42-tägigen Lockdown. Ihm und seinem Umfeld brachen dadurch die Einnahmen weg: Seine schwangere Freundin konnte ihre selbstgeflochtenen Körbe nicht mehr absetzen, seine Mutter verkaufte auf dem Markt keinen Tee mehr, ihm fehlten die Kunden für das Motorradtaxi.

Kurz vor der Abreise beschloss Ssekitoleko deshalb, sein Motorrad zu verkaufen. Ein Teil des Erlöses floss an die Familie, mit dem anderen kaufte er Gewichtheber-Handschuhe, einen Sportgürtel und weitere Reiseutensilien. «Die ugandischen Sportverbände unterstützen ihre Sportler nicht mit Material», erklärt er.

Fein säuberlich sortiert Ssekitoleko seine Medaillen. Sein grösster Stolz: Bronze an den diesjährigen afrikanischen Gewichtheber-Meisterschaften in Kenya.

Letzte Tage in Japan

Knapp einen Monat nachdem Ssekitoleko voller Hoffnung in Tokio gelandet ist, irrt der Gewichtheber nach einer kurzen Nacht unter freiem Himmel durch Nagoya. Zufällig trifft er auf einen Landsmann, der ihn bei sich übernachten lässt und ihn tags darauf zu einem Autoschrotthändler in einer nahen Kleinstadt bringt. Hier soll es Arbeit geben. Als jedoch klar wird, dass Ssekitoleko keine Arbeitsbewilligung hat, schickt ihn der Inhaber fort. In der Nacht klettert er zurück in die Autoschrottmulde und übernachtet in einem der Wagen. Am nächsten Morgen beobachtet er, wie sechs Polizisten den Schrotthändler befragen. Da wird ihm klar, dass sein Ausreissversuch mit dem Ziel eines besseren Lebens bald vorbei ist. «Ich wusste, nun musste ich mich ergeben.»

Die japanische Polizei wird später berichten, dass Ssekitoleko während der Befragung immer wieder geweint habe. Wie er erst um eine Arbeitsbewilligung und anschliessend um Asyl flehte – umsonst.

Als Ssekitoleko wenige Tage später in seine Heimat zurückkehrt, erwarten ihn am Flughafen ugandische Sicherheitsbeamte. Sie führen den Gewichtheber an seiner Familie und der versammelten Presse vorbei und bringen ihn in ein Hochsicherheitsgefängnis, wo er fünf Tage lang inhaftiert bleibt. Er sei von Polizisten stundenlang befragt und beschimpft worden, erzählt er mit Tränen in den Augen. «Dann musste ich in einer überfüllten Zelle schlafen, eingepfercht zwischen Vergewaltigern und Mördern.»

Ende Juli kommt Ssekitoleko auf Kaution frei. Seither muss er sich jede Woche bei der Polizei melden. Ob gegen ihn Anklage erhoben wird, ist bis heute unklar. Im Raum stehen eine bewusste Täuschung der Behörden sowie eine Verletzung des Verhaltenskodexes der Olympia-Delegation Ugandas.

«Julius ist für mich wie ein verlorener Sohn», sagt Trainer Ivan Masakwe über seinen Schützling.

Zwischen Idol und verlorenem Sohn

Eins haben die verrückten letzten Wochen nicht verändert in Ssekitolekos Leben: Er stemmt weiter Gewichte. Als er zum ersten Mal seit seiner Rückkehr aus Tokio den Hinterhof betritt, in dem sich in einer einstigen Garage sein Fitnessstudio befindet, kommen ihm drei Sportler entgegen. Die Freunde umarmen sich, lassen los, schauen sich an, umarmen sich erneut.

«Ich dachte, ich würde Julius nie wiedersehen», sagt einer von ihnen. Vor dem Studio legt Ssekitoleko zwischen streunenden Hunden und parkierten Autos ein paar Gewichte auf die Bank. Mehrmals hebt er 80 Kilogramm in die Luft.

«Julius ist für mich wie ein verlorener Sohn», sagt sein Trainer Ivan Masakwe, der dem Training beiwohnt. Sein Schützling habe vielleicht Fehler gemacht, aber man solle ihm einen Menschen zeigen, der ohne Fehler sei. «Ich danke Gott, dass er zurückgekehrt ist.»

Hier, wo er das erste Mal von der Olympiade zu träumen gewagt hat, macht sich Ssekitoleko nun Gedanken darüber, wie sein weiteres Leben aussehen könnte. Er hoffe, sein neues Motorrad abbezahlen zu können, sagt er. Das erlaubte es ihm, als Fahrer wieder ein regelmässiges Einkommen zu erzielen. Zudem wolle er bis zur Geburt seines Sohnes im Dezember ein günstiges Zimmerchen für ihn und seine Freundin finden, vielleicht sogar heiraten.

Und der Sport? Auch wenn Ssekitoleko vielleicht nie mehr für Uganda antreten darf – es droht ihm der Ausschluss aus dem ugandischen Gewichtheberverband –, gibt er die Hoffnung nicht auf, irgendwann vom Sport leben zu können. «Gewichtheben gehört zu mir», sagt der junge Mann, während ihm Schweissperlen von der Stirn rinnen. Dann wandert sein Blick zu den Zuschauern auf der Bank vor dem Fitnessstudio: «Vielleicht werde ich stattdessen Trainer für die nächste Generation.»