«Meine Söhne betrachteten mich als Feind»
Der Krieg kam näher, das hat Jacqueline Chance bald gemerkt. Die Schüsse, die sie nachts hörte, wurden lauter. Auf der grossen Strasse strömten jeden Tag mehr Familien vorbei, beladen mit Matratzen, Kanistern und schweren Stoffbeuteln. Und bald verliessen auch die weissen NGO-Mitarbeiter in ihren Geländewagen die Stadt.
Am letzten Februartag dieses Jahres beschloss auch Chance, Masisi zu verlassen. Die Gegend um die Kleinstadt im Osten von Kongo-Kinshasa ist jüngst zu einem Brennpunkt der Gewalt geworden. Die kongolesische Armee kämpft hier vor allem gegen die M23, eine Rebellengruppe, die jüngst immer stärker wurde.
Mama Chance, wie sie in der Stadt genannt wird, packte hastig ein paar Kleidungsstücke ein, zudem Bohnen und Maniok – für sich selbst, ihren Ehemann und ihre sechs Kinder. Dann schlossen sie und ihre Familie sich dem Strom der Verzweifelten an. Nach dreitägigem Fussmarsch erreichten sie den kleinen Bauernhof einer entfernten Tante. Hier konnten sie vorerst bleiben.
Geschichten wie diese haben in der Region um Masisi in den letzten Monaten viele Menschen erlebt. Allein im März sind hier 72 000 Personen vertrieben worden.
Ein Konflikt um Land und Ressourcen
Masisi liegt auf einer Hügelkette, die auch die «Schweiz Afrikas» genannt wird. Sie erhebt sich westlich des Kivusees und ist bis zu 2000 Meter hoch. Seit Jahrzehnten ist die Region immer wieder Schauplatz blutiger Konflikte und politischer Machtspiele gewesen. Früher waren die Auslöser oft Streitereien um Landbesitz. Heute kämpft man auch um den Zugang zu begehrten Bodenschätzen, etwa Coltan.
In den letzten eineinhalb Jahren hat sich die Sicherheitslage hier noch einmal deutlich verschlechtert. Ende 2021 eroberte die M23-Miliz erste Gebiete in der Region und weitete ihre Kontrolle danach kontinuierlich aus. Seit Anfang dieses Jahres hat die Intensität dieser Vorstösse nochmals zugenommen. Zeitweise rückte die Miliz praktisch bis an die Aussengrenzen von Masisi heran.
Die M23-Miliz besteht aus ehemaligen Soldaten der kongolesischen Armee und entstand 2012. Viele Mitglieder gehören zur Ethnie der Tutsi. Nachdem die M23 nach ihrer Entstehung kurzzeitig gar die Millionenstadt Goma besetzt hatte, wurde es jahrelang ruhig um sie. Nun hat sie neuerlich an Schlagkraft gewonnen. Gemäss einer Untersuchung der Uno hängt das auch mit Rwanda zusammen. Das Nachbarland soll die Miliz militärisch und finanziell unterstützen.
Nach Verhandlungen mit der Regierung versprach die M23 im April, sich aus der Region um Masisi zurückzuziehen. Trotzdem halten sich weiterhin Kämpfer der Miliz in den bewaldeten Hügeln um Masisi auf; jüngst sollen gar neuerlich heftige Kämpfe in der Region aufgeflammt sein.
Eine zerrissene Familie
Mama Chance ist kürzlich trotz der weiterhin angespannten Sicherheitslage in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Sie freut sich, nicht mehr eingepfercht zu sein in dem kleinen Bauernhaus ihrer Verwandten, wo auch drei andere vertriebene Familien vorübergehend Unterschlupf gefunden hatten.
Vorbei ist der Krieg für sie aber nicht, er lebt in ihrer Familie weiter. Ihre ältesten drei Söhne – sie sind 16, 13 und 12 Jahre alt – sind auf der Flucht im Februar verschwunden. Mama Chance hatte sich mit den drei jüngeren Kindern auf den Weg gemacht. «Die drei älteren Buben haben versprochen, dass sie unser Haus noch sichern und dann nachkommen», sagt sie. Doch sie sind nie zu der flüchtenden Familie hinzugestossen.
«Wir wussten nicht, wo sie waren», sagt Mama Chance, «ich betete jeden Tag für sie.» Erst bei ihrer Rückkehr nach Masisi erzählten ihr Bekannte, dass sie als Soldaten der Mai Mai gesichtet worden waren – einer weiteren Milizgruppe, die derzeit durch die Hügel der Region zieht.
Die tragische Geschichte der Familie von Mama Chance scheint wie ein Abbild der derzeitigen Lage in Ostkongo. Rund 120 bewaffnete Milizen zählt die Organisation Kivu Security Tracker derzeit in der Region. Dazu gehören kleine lokale Verteidigungsgruppen genauso wie die M23, die militärisch gut ausgerüstet ist und offenbar weder von der regulären Armee noch von der etwa 17 000 Mann starken Uno-Friedenstruppe entscheidend geschwächt werden kann. Was die meisten Milizen eint, sind ihre ständigen Bemühungen um frische Rekruten.
Mama Chance versteht nicht, warum ausgerechnet ihre drei Söhne Mai-Mai-Kämpfer wurden: «Sie wissen nicht einmal, wie man eine Waffe in den Händen halten muss», sagt sie. Vor einigen Wochen gelang es Chance mithilfe einer Kontaktperson, die Mai Mai zu lokalisieren. Aus dem erhofften freudigen Wiedersehen wurde indes ein Albtraum. Als sie den Ort in einem Wald besuchte, flohen ihre Söhne. «Sie haben mich als Feind betrachtet», sagt sie und wendet ihr tränenüberströmtes Gesicht den gegenüberliegenden Hügeln zu. «Ich hoffe, dass sie zurückkommen, auch wenn wir nichts haben. Ich vermisse sie so sehr.»
«Wir sind ausgelastet»
Die Bewohner von Masisi leben weiterhin in Angst und Unsicherheit. Noch immer sind in der Nacht Schüsse zu hören.
Gleichzeitig spüren sie nun die Folgekosten der Gewalt immer deutlicher. Dazu gehören die massiv gestiegenen Preise, selbst für die einfachsten Konsumgüter. Der Grund: Auf der einzigen Strasse, die Masisi mit Goma verbindet, haben die M23, verschiedene lokale Milizen sowie das kongolesische Militär damit begonnen, Kontrollposten zu errichten. Für das Passieren verlangen sie von den Händlern «Zölle», wodurch die Preise ansteigen. Für ein Kilogramm Mehl etwa zahlt man in Masisi heute fast drei Mal so viel wie vergangenes Jahr.
Betroffen sind auch die Medikamentenpreise. Diese seien doppelt so hoch wie vor einigen Monaten, erzählt der Arzt Théophile Hangi Kubuya in seinem Büro in Masisi, während der Regen unaufhörlich auf das Blechdach niederprasselt. Dabei sei man nun eigentlich mehr denn je auf eine gute Ausstattung angewiesen.
Kubuya leitet ein Spital in Masisi, das zusammen mit der NGO Médecins sans frontières betrieben wird. Hier erholen sich ehemalige Milizionäre und Zivilisten von Schusswunden und liegen in Betten neben Kindern, die wegen Unterernährung behandelt werden.
Seit Anfang April seien die 310 Spitalbetten konstant belegt und die sechzehn Ärzte ausgelastet gewesen, so Kubuya. Um mehr Patienten unterbringen zu können, lässt er manchmal im Innenhof Zelte aufstellen oder bietet Matratzen im Gang an. Doch je länger der Konflikt mit der M23 dauere, desto schwieriger sei seine Arbeit, sagt Kubuya. «Die Patientenzahl übersteigt die Krankenhauskapazität.»
Lebend aus dem Kugelhagel
Zu den 110 Menschen, die hier in den ersten Monaten wegen Schussverletzungen behandelt worden sind, gehört auch die 32-jährige Malaika, die in Wirklichkeit anders heisst.
Als M23-Rebellen an einem Februarmorgen ihr Dorf angriffen, versuchte sie, im Kugelhagel zu fliehen. «Da waren Gewehre, viele, viele Gewehre», erinnert sie sich, während sie in der Chirurgie auf einem schmalen Metallbett liegt. Sie weiss nicht mehr, wie viele Kugeln sie trafen, aber sie zerschmetterten ihr Bein, ihren Arm und ihre Hüfte. «Überall war Blut», sagt sie. Hilfe kam erst am nächsten Nachmittag, als ein Nachbar sie mit einem Motorrad ins Krankenhaus brachte. «Alles, was ich tun konnte, war weinen.»
Bald sollen Malaikas Verbände entfernt werden, danach kann sie zurück in ihr Dorf gehen. «Es geht täglich etwas besser», sagt sie und erklärt: «Vorher konnte ich nicht einmal meinen Kopf heben.»
«Der Krieg ist besonders katastrophal für die Frauen. Sie sind am meisten gefährdet», erklärt Kubuya. «Sie sind die Zielscheibe in diesem Konflikt zwischen den bewaffneten Gruppen.» Allein zwischen Januar und März dieses Jahres habe das Spital 165 Opfer von sexueller Gewalt behandelt.
Ushindi, auch sie heisst eigentlich anders, ist eines von ihnen. Sie ist herzkrank. Als ihr Dorf im Februar von einer bewaffneten Gruppe, wahrscheinlich der M23, angegriffen wurde, konnte sie mit den anderen Flüchtenden nicht Schritt halten und blieb zurück. «Ich sagte mir: Okay, wenn sie mich töten wollen, dann töten sie mich gleich hier.»
Ushindi erinnert sich, dass die Männer, die sie festhielten, eine Mischung aus militärischer und ziviler Kleidung trugen, Gewehre bei sich hatten und sie schlugen. Sieben von ihnen vergewaltigten sie. Zehn weitere Frauen aus dem Dorf wurden ebenfalls vergewaltigt. Ushindi sagt, zwei von ihnen seien an ihren Verletzungen gestorben, unter ihnen ein neunjähriges Mädchen.
Danach sei sie mehrere Tage auf dem Boden gelegen, unfähig, sich zu bewegen oder ihre Blase zu kontrollieren. «Ich war wie eine Gelähmte», sagt sie leise. Als sie endlich von Dorfbewohner gefunden wurde, schleppten diese sie zu Fuss ins Krankenhaus. Das dauerte vier Tage.
Ushindi wurde im Spital in Masisi medizinisch behandelt und erholte sich einen Monat lang von ihren Verletzungen. Nach Hause zurückkehren konnte sie jedoch nicht. Ihr Ehemann hatte sie verlassen, als er erfahren hatte, dass sie vergewaltigt worden war.
Ushindi arbeitete früher als Bäuerin in ihrem Dorf, nun lebt sie in Masisi und hat Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden. «Seit das passiert ist, bin ich nicht mehr glücklich», sagt sie.